Ciutat morta//Dead city, 128min, 2013, OmU
Montag, 16.05.2016, 20h in der Zülpi290
Übersetzt aus dem Roar-Magazin vom 07. Februar 2015
Tote Stadt: Hausbesetzer für eine sauberer Stadt foltern
von Carlos Delcós
Vor neun Jahren folterte Barcelonas Polizei vier unschuldige Menschen. Eine neue Dokumentation erzählt ihre Geschichte und lässt die dahinter stehende Korruption eines ganzen Systems zu Tage treten.
Asche, Blut und Orujo mischen sich mit dem Regen über der Menge vor dem Rathaus Barcelonas. Diana Torres mischte die Überreste ihrer geliebten Patri mit Traubenlikör und ihrem eigenen Blut. Sie spritzt die Mischung über einige der mehr aus tausend Menschen, die sich in Solidarität versammelt haben. „Ich möchte Rache und Vergeltung, Worte, die wir von Hexen geerbt haben“, sagt sie über die PA, bevor Cindy Laupers ‘Girls Just Want to Have Fun’ über den Platz schallt. Dann ruft sie zu einer Minute des Aufschreis auf – der Platz bebt.
Es dauerte fast ein Jahrzehnt der Solidarität und des Kampfes, um jenen Klang aufzubauen, der den Plaça Sant Jaume in der Nacht des 4. Februar 2015 erschüttert. Obwohl seine Geschichte auf den ersten Blick wie ein Einzelfall erscheint, beschreibt er einen Prozess, der weit über Barcelona hinaus reicht. Ein Prozess, von dem Murray Bookchin als ‚Der Aufstieg der Urbanisierung und der Verfall des Bürgerrechts‘ spricht, den langsamen Tod des städtischen Lebens, das er als „menschliche Nähe, unverkennbare Viertel und menschlich gestaltete Politik“ beschreibt, und der gewalttätigen Zumutung von Urbanisierung, mit ihren ‚erstickenden Zügen der Anonymität, Angleichung und institutionellem Gigantismus‘.
Genau neun Jahre vor dem Protest an jenem Mittwoch, befanden sich hunderte Menschen auf einer Party in einem besetzten Theater in Barcelonas berühmten gotischem Viertel. Wie so oft in solchen Situationen erschien schließlich die Polizei, um die Menge zu vertreiben. Wie vorherzusehen war, brach ein Handgemenge aus. Weniger vorhersehbar war, dass einer der Beamten ins Koma fiel, nachdem er von einem Blumentopf am Kopf getroffen wurde.
In Rage griffen sich die Beamten in der Umgebung all die, deren Erscheinung ihren späteren Berichten zufolge auf den „Squatter Look“ passte. Sie verhafteten drei junge südamerikanische Männer. In Haft waren die drei rassistischen Beleidigungen und Folter durch die katalanische und die städtische Polizei ausgesetzt, und benötigten schließlich medizinische Hilfe. Als die Polizei ihre Opfer zur Behandlung endlich in das Krankenhaus Hospital del Mar brachte, entdeckte sie dort im Warteraum zwei weitere verletzte Menschen mit markantem Aussehen. Patricia Heras und Alfredo Pestana hatten einen Fahrradunfall nach einem Abend mit ihren Freund*innen in einer Bar in Raval, auf der gegenüberliegenden Seite der zentralen Ramblas. Sie waren nicht auf der Party im besetzten Theater. Die Polizei glaubt ihnen ihre Geschichte nicht und verhaftete sie.
Was danach folgte, ist eine verstörende Erzählung von Folter und Korruption, die sich von der Polizei über die Justiz bis hin zur linken Regierungskoalition, die zu diesem Zeitpunkt im Amt war, ausweitet. Sie gipfelte im Selbstmord von Patricia Heras im April 2011, die sich auf diesem Weg weigerte, ihre unrechte Haft weiter zu erleiden. Trotz ihrer Allgegenwärtigkeit in Barcelonas sozialen Bewegungen, wurde die Erzählung von den katalanischen und spanischen Medien hauptsächlich zum Schweigen gebracht. In den letzten vier Jahren fügte deshalb das Medienkollektiv Metromuster die Geschichte aus Interviews mit Journalist*innen, Anwält*innen und den Betroffenen zusammen.
Nach mehreren Jahren der Mobilisierung, bis hin zur Besetzung des Kult-Kinos Palau del Cinema, das in Teatro Patricia Heras umbenannt wurde, erschien die Dokumentation Ciutat Morta (Tote Stadt) im Januar 2015 auf zwei kleinen Sendern des katalanischen öffentlichen Fernsehens, zu einer ungünstigen Uhrzeit und um 5 Minuten gekürzt. Trotz dieser Umstände sahen die Doku mehr als eine halbe Million Menschen – die höchsten Einschaltquoten in der Geschichte beider Sender.
Die Dokumentation gibt es online, auch mit englischen Untertiteln:
https://vimeo.com/116564245
Ciutat Morta erzeugte ein politisches Erdbeben in Katalonien. Die Leute waren aufgebracht als sie sahen, wie gewalttätig und korrupt Polizei und Stadtpolitik sein können, sogar unter einer vermeintlich progressiven Stadtregierung. Selbst Fernsehkoryphäen wie Pilar Rahola, der zuvor die Mütter der südamerikanischen Betroffenen dafür kritisierte, dass sie das spanischen Justizsystem in Frage stellten, sagte nun, das der Fall erneut geöffnet werden sollte. Eine der am meisten wiederholten Meinungen in den Tagen nach der Ausstrahlung war, dass an jenem Abend jede*r Patricia Heras und Rodrigo Lanza hätte sein können. Tatsache ist aber, dass es nicht jede*r hätte sein können. Patricia Heras, Rodrigo Lanza, Juan Pintos und Alex Cisternas passen in ein bestimmtes Bild, das seit mehreren Jahren konstruiert wird. Sie wurden als Incívicos betrachtet, dem Sinnbild für den städtischen und moralischen Verfalls.
Das Bild des*der Incívico trat im Sommer 2003 zum ersten Mal zu Tage, als La Vanguardia (Kataloniens größte Zeitung) die Kritik rechter Parteien wiedergab, die die linke Stadtregierung für ihren milden Kurs bei der Nutzung öffentlichen Raums verantwortlich machte. Dieser führe zu „schmutzigen“ Straßen und „asozialem“ Verhalten. Die Zeitung brachte täglich Berichte über Sex im öffentlichen Raum, Drogenkonsum und Urinieren, Hausbesetzungen, Skaten, Obdachlosigkeit, Prostitution und Straßenverkauf, bebildert mit skandalträchtigen Fotos von Müllbergen in den Straßen und an den Stränden der Stadt.
Die Zeitung setzte diese Probleme zudem in Zusammenhang mit dem damals gerade stattfindenden Wandel der Stadt zu einem der Hauptziele internationaler Migration. So wie die rechten Nationalisten der Partei Convergència i Unió Tiraden über das „Recht für ein sauberes Barcelona“ skandierten, beschwerten sich Geschäftsinhaber*innen und Anwohnende der Mittel- und Oberschicht darüber, dass die Straßen „nicht mehr das sind, was sie einmal waren“. In den darauf folgenden Monaten stieg der incivismo nach Angaben der Stadtbewohner*innen in offiziellen Umfragen zu einem der größten sozialen Probleme auf – neben der Immigration.
Der „sozialistische“ Bürgermeister Joan Clos antwortete auf diese Bedenken mit seinem Plan zur „Förderung von zivilen Werten“, dessen maßgebliches Ziel war, die Bedenken zur „nicht zivilen“ Nutzung des öffentlichem Raums unter der Bürgerschaft zu vergrößern. Nach Angaben der Beobachtungsstelle des Strafsystems und der Menschenrechte der Universität Barcelona, unterstrich der Plan die Teilnahme der Bürgerschaft an der Denunziation von abweichenden Verhalten, das hauptsächlich mit sozial ausgegrenzten Bevölkerungsteilen in Verbindung gebracht wurde, darunter Sex-Arbeiter*innen, Obdachlose und Menschen ohne Papiere. Auf Squatters traf dies genauso zu. In Ciutat Morta erklärt der Anthropologe Manuel Delgado, dass all diese Gruppen pauschal als Problem der öffentlichen Hygiene betrachtet wurden.
Dem Plan zur „Förderung von zivilen Werten“ folgte 2006 die Verabschiedung von sog. bürgerlichen Satzungen, die der Polizei mehr Macht und neuen Spielraum zustanden, um festzulegen, welches Verhalten – und in Folge dessen, welche Bevölkerungsteile – ins Ziel ihrer Durchsetzung von ‚angemessenem‘ Zusammenleben im öffentlich Raum geraten. Informelle Aktivitäten wurden mit hohen Busgeldern belegt. Skaten, Jonglieren und Fußballspielen in den Straßen wurden mit Busgeldern von bis zu 1500 Euro bestraft, Prostitution mit bis zu 3000 Euro. Betteln, schlafen, trinken und der Verkauf von kopierter Ware im öffentlichen Raum wurde ebenfalls bestraft. Diese Maßnahmen waren mehr als reine Symbolik: im ersten Jahr nach Inkrafttreten wurden pro Tag durchschnittlich 148 Busgeldvermerke ausgestellt.
Durch die neuen Gesetze wurden zudem alltägliche Situationen mit einem beunruhigenden Grad symbolischer Gewalt aufgeladen. Ein bekanntes Beispiel betraf das permanente Abspritzen der Fußgängerzonen. Das klingt auf den ersten Blick harmlos und mag sogar wünschenswert sein, wenn es als einfache Stadtreinigungsaufgabe ausgeführt wird. Aber ich werden niemals den Anblick vergessen, als die Stadtreinigung in Begleitung der Polizei Bettler*innen, Travelers und Squatter-Punks von den Stufen des Plaça George Orwell spülte. „Das passiert mehrmals am Tag“ erklärte ich einem Freund, der dies entsetzt beobachtete, „Sie bewässern den Bürgersteig so lange bis er wächst“.
Der Rahmen. der von den Medien und Stadtpolitiker*innen genutzt wurde, um Barcelonas einst vibrierenden öffentlichen Räume in leblose öffentlich-private Räume zu verwandeln, bestimmt auch die Frage, warum es neun Jahre dauerte, um die Geschichte von Patricia Heras, Rodrigo Lanza, Alex Cisternas und Juan Pintos an die Öffentlichkeit zu bringen. Squatters, Immigrant*innen und Menschen mit alternativem Lifestyle wurden als unnützes Nebenprodukt städtischen Verfalls gezeichnet. Die Mehrheitsgesellschaft fühle sich nicht genötigt ihre Geschichten zu hören oder die offiziellen zu hinterfragen.
Glücklicherweise scheint sich das in der Welt nach 2011 zu ändern. Das Misstrauen gegenüber der Regierung, den Medien und der Polizei wächst, genauso wie das Verlangen nach Vergeltung und dem Verlangen nach Rechenschaft. Im Zusammenhang mit dem wachsenden Bewusstsein über die Notlage der systematisch Ausgegrenzten und Enteigneten, erlangen gemeinschaftliche Aktionen eine größere Reichweite und sind schwerer zu übersehen. Es wird schwerer, Polizeigewalt als ein isoliertes Problem darzustellen, das durch die moralischen Verfehlungen einzelner Beamte*innen hervorgerufen wird. Stattdessen wird Polizeigewalt als eine Facette einer gesamten Struktur von systematischer Gewalt begriffen.
Demzufolge beschränkte sich der Protest am Mittwoch Abend nicht alleine darauf, für den Fall der Betroffenen des 4. Februar einzutreten. Die Menschen verlangten ebenso Gerechtigkeit für Juan Andrés Benitez, einen lokalen Geschäftsinhaber, der im letzten Jahr von der Stadtpolizei getötet wurde, und für Idrissa Diallo und Alik Manukyan, die in Barcelonas Internierungslager für Immigranten starben. Die Slogans des Protests griffen die Zuweisungen an, die auf die Betroffenen angewandt wurden, von rassistischer Verleumdung bis zum Incívico. Auf einem Banner stand zu lesen: „Es ist nicht ein Apfel, es ist der ganze Korb!“. Das ist der einzige Hoffnungsschimmer einer ansonsten düsteren und bedrückenden Geschichte – und er ist scheint hell. Immer mehr Menschen entdecken die Solidarität und Erkennen, dass die Straßen der toten Stadt erst aufbrechen, wenn wir weiter das bewässern, was unter ihnen wächst.
Zwei Stellungnahmen zu Problemen des Films
auf s!n:
Kommuniqué von Juan Pintos (auf spanisch)
Comunicado de Juan Pintos, detenido/encarcelado/condenado por el montaje del 4F
https://es.squat.net/2015/01/26/comunicado-de-juan-pintos-detenidoencarceladocondenado-por-el-montaje-del-4f/
Wenn ein Bild nicht mehr als tausend Worte wert ist – von der Unterstützungsgruppe der Gefangenen des 4F-Falls
https://es.squat.net/2015/02/02/barcelona-4f-cuando-una-imagen-no-vale-mas-que-mil-palabras/
Mehr Infos zum 4F Fall:
https://roarmag.org/essays/torturing-squatters-barcelona-4f
https://de.indymedia.org/2006/07/153773.shtml
https://bodenfrost.wordpress.com/2013/06/09/die-wahrheit-uber-patricia-heras-filmpremiere-in-besetztem-kino
http://www.ub.edu/ospdh
http://www.amnesty.org/en/library/asset/EUR41/010/2009/en/677ab6fc-d161-4b86-9284-c4fe612552f8/eur410102009en.pdf
Infos zum Film:
http://metromuster.cc
https://vimeo.com/116564245
Weiter Links aus dem Text:
https://www.youtube.com/watch?v=VbJUuSFggHk
https://www.diagonalperiodico.net/global/24666-idrissa-diallo-cronica-muerte-cualquiera.html
http://www.armradio.am/en/2013/12/11/protests-in-barcelona-over-death-of-armenian-citizen/
Wir zeigen jeden Montag gegen 20Uhr Filme, als Teil des sozialen
Zentrums in der besetzten Zülpicherstr. 290. Unser momentanes
Lieblingsthema ist global und lässt große und kleine soziale Bewegungen
sprechen, die vorgestern, gestern und heute in der Stadt, auf dem Land
und dazwischen für ihren Wohn- und Lebensraum kämpfen, Alternativen zur
neo-liberalen Stadtentwicklung leben, in Landkonflikte involviert sind,
sich organisieren und gegen Räumungen und Verdrängung zur Wehr setzen
und sich oft ihren Lebensraum in direkten Aktionen wieder aneignen. Es
gibt weltweit viel Bewegung, und auch unsere kleine und motivierte
Kölner Besetzungsbewegung ist ein Teil davon.
Das kleine Kino in der Zülpi ist außerdem für alle da. Sprecht uns an,
wenn ihr selber mal einen Film zeigen möchtet: wohnraum@autistici.org
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